Le Temps (26.07.2021) - Der Countdown läuft. Nicht einmal mehr sechs Monate sind es, bis am 1. Januar 2022 mit der Ablösung des LIBOR (London Interbank Offered Rate) in der Finanzwelt eine neue Ära beginnt.

Damit endet die mehr als drei Jahrzehnte währende Alleinherrschaft dieses Interbankensatzes, der für ein breites Spektrum an Finanzinstrumenten (Kredite, Anleihen, Derivate, strukturierte Produkte) als Referenzzinssatz fungiert hat und dessen Veröffentlichung in Euro, Schweizer Franken, Pfund Sterling und Yen nun eingestellt wird. Für die Publikation des LIBOR in US-Dollar wurde für das sehr kurze Laufzeitensegment eine Gnadenfrist bis 2023 gewährt.

Manipulationen und schwindende Liquidität am Interbankenmarkt hatten den Ruf des LIBOR schwer beschädigt und dazu geführt, dass dieser nun neuen risikofreien Referenzzinssätzen (sogenannten Alternative Reference Rates – ARR) weichen muss, denen der Finanzstabilitätsrat als federführendes Gremium dieser internationalen Reform höhere Verlässlichkeit und Robustheit attestiert.

Bestehende Verträge neu verhandeln

Im Gegensatz zum LIBOR, der auf Grundlage von Schätzungen der Panel-Banken berechnet wurde, werden die ARR aus tatsächlich getätigten Transaktionen abgeleitet. Die seit 2014 laufende grundlegende Reform des Referenzzinssystems ist wegen der hohen Komplexität und schieren Grösse des Marktes (Mitte 2018 betrug das Volumen von an verschiedene LIBOR-Sätze gekoppelten Transaktionen sage und schreibe 400 Billionen US-Dollar) eine echte Mammutaufgabe. Zwar sind noch nicht alle Unsicherheiten beseitigt, doch insgesamt ist es dem Finanzsektor ganz gut gelungen, seine Kräfte zu bündeln und diese Hürde zu nehmen. Dabei wurde eine seltene Einigkeit an den Tag gelegt, die in ihrer Einzigartigkeit auch dadurch nicht geschmälert wird, dass die Vorbereitungen nicht in jedem Land gleich schnell vorangetrieben wurden. In nationalen Arbeitsgruppen arbeiteten Vertreter von Zentralbank, Aufsichtsbehörden und der Branche Hand in Hand, um mit dieser Reform gleich mehrere Schwachstellen anzugehen. Neben der Festlegung der neuen Referenzzinssätze galt es, bestehende Verträge neu zu verhandeln, auf die neue Benchmark umzustellen und die Flut an Neuverträgen auf die neuen Zinssätze zuzuschneiden.

In Grossbritannien scheint man dem Stichtag am 1. Januar gelassen entgegenblicken zu können. Der britische Nachfolger für den LIBOR, der Sterling Overnight Index Average (SONIA), hat sich an den Anleihe- und Derivatemärkten bereits recht gut etabliert. Schon seit letztem Frühjahr wird in Neuverträgen und bei in Pfund Sterling begebenen Produkten nicht mehr der LIBOR als Bezugsgrösse verwendet. Auch in der Eurozone steht man in den Startlöchern, um bestimmte Referenzzinssätze abzulösen, wobei der EURIBOR als bedeutendster Euro-Satz weiterhin veröffentlicht wird, wenn auch mit geänderter Berechnungsmethode. Der 2019 eingeführte €STR (Euro Short-Term Rate) soll den Übernachtzinssatz EONIA ersetzen.

In Japan steht indes noch einiges an Arbeit bevor. Erst vor Kurzem warnte ein Vertreter der japanischen Notenbank, die Uhr ticke unaufhörlich, und zeigte sich besorgt, dass die Finanzinstitute bei der Umstellung ihrer Verträge mit LIBOR-Bezug nur schleppend vorankommen. Neben dem seit Anfang 2021 veröffentlichten TORF (Tokyo Term Risk Free Rate) stehen in Japan noch zwei weitere risikofreie Zinssätze zur Auswahl.

Auch in den USA sorgt die LIBOR-Ablösung für Angstschweiss bei allen Beteiligten. Mit der Entscheidung, die Veröffentlichung des USD-LIBOR bis Mitte 2023 zu verlängern, soll den Marktteilnehmern Luft verschafft werden, um Altverträge neu auszuhandeln. Allerdings haben die Aufsichtsbehörden als Ultimatum gesetzt, Neuverträge spätestens ab Ende 2021 nicht mehr an den LIBOR zu koppeln. Zum Nachfolger des alten Referenzzinssatzes und damit zum neuen Standard für den US-Markt wurde der von der New Yorker Federal Reserve verwaltete SOFR (Secured Overnight Financing Rate) gekürt. Allerdings konkurriert der SOFR mit etablierten Bezugsgrössen wie der Federal Funds Rate und der Overnight Bank Funding Rate. Immer lauter wird inzwischen – sogar auf höchster Ebene von Finanzministerin Janet Yellen – gefordert, gemeinsam und mit ganzer Kraft an einem geordneten Übergang zu arbeiten.

In der Schweiz sieht es da schon besser aus, laufen die Vorbereitungen für die LIBOR-Ablösung bislang doch ganz nach dem von der Schweizer Finanzmarktaufsicht FINMA vorgegebenen Fahrplan. Schon jetzt kann sich die Schweiz damit rühmen, mit dem SARON (Swiss Average Rate Overnight) eine solide und ausreichend liquide Alternative an der Hand zu haben. So überrascht es auch nicht, dass dieser 2008 in Reaktion auf die Finanzkrise lancierte transaktionsbasierte Tagesgeldsatz zum Nachfolger des LIBOR erkoren und von allen Banken als neuer Referenzzinssatz angenommen wurde. Seit dem 30. Juni wird in neuen Verträgen nur noch der SARON als Bezugsgröße verwendet.

Doch ganz gleich, wie viel Druck die einzelnen Länder bei ihren Vorbereitungen für die Umstellung am 1. Januar machen, bleiben am Ende noch offene Fragen. Während der LIBOR für Laufzeiten von einem Tag bis zu einem Jahr berechnet wurde, wird bei den neuen Referenzzinssätzen ein Backward-Looking-Ansatz angewendet. Die rückwirkende Berechnung zwingt die Banken, kostspielige Methoden zu entwickeln, wie sie ihren Kunden trotzdem im Voraus Zinsauskünfte geben können.

Hinzu kommt, dass die ARR ausschliesslich «risikolose» kurzfristige Transaktionen abbilden und somit (im Gegensatz zum LIBOR) keine Liquiditäts- und Kontrahentenrisiken berücksichtigen. Für die Branche bedeutet dies, dass Wege gefunden werden müssen, diese Risiken in anderer Form in die Kreditkosten zu integrieren. Zu diesem Zweck wurden etliche Benchmarks (Bloomberg Short Term Bank Yield Index, American Interbank Offered Rate, IHS Markit USD Credit Inclusive Term Rate etc.) eingeführt, wobei bislang keine besonders hervorsticht.

Schweiz hat sich für einen ARR entschieden

So bleibt dem Finanzsektor vorerst nichts anderes, als gleichzeitig mit mehreren nur schwer vergleichbaren Zinssätzen zu jonglieren. Die Schweiz zum Beispiel hat sich für einen ARR entschieden, der auf besicherten Transaktionen basiert, während anderswo für einen unbesicherten Zinssatz optiert wurde. Somit ist es geradezu unmöglich vorherzusagen, welche Referenzzinssätze sich in Zukunft als Standard für internationale Finanzierungstransaktionen (Trade Finance oder syndizierte Kredite) – dem einstigen Herrschaftsgebiet des LIBOR – durchsetzen werden. In der Branche sollte man sich daher darauf einstellen, dass einiges an Anpassung nötig sein wird, bis sich die neuen Standards etabliert haben. Wie bei jeder Veränderung lautet auch hier das Motto: Aus Erfahrung lernen.