Le Temps (23.05.2022) - Die Finanzindustrie engagiert sich an vorderster Front im Streben nach einer nachhaltigen Welt, wie die beeindruckende Steigerung der nach nachhaltigen Kriterien verwalteten Vermögen zeigt.

Nach mehreren Jahren zweistelligen Wachstums übertreffen heute die in nachhaltigen Anlagefonds investieren Mittel allein in der Schweiz jene traditioneller Fonds. Dies geht aus dem jüngsten Marktbericht von Swiss Sustainable Finance hervor, der auch bestätigt, dass das Klima noch bei weitem eines der wichtigsten Themen für verantwortungsvolle Anlagen darstellt.

Dafür gibt es mehrere gute Gründe: Die Klimakrise ist eine riesige Herausforderung, weshalb es nur gerechtfertigt sein kann, Kapital in Unternehmen zu lenken, die nach Lösungen dafür suchen. Darüber hinaus herrscht weitgehender Konsens im Hinblick auf den langfristigen Fahrplan zur Stabilisierung der Temperaturen: Wir müssen unseren Kohlenstoff-Ausstoss reduzieren und unsere CO2-Emissionen möglichst auf null senken. Die notwendigen Mittel zur Messung dieser Emissionen stehen zur Verfügung und die Unternehmen mit dem verantwortungsvollsten Verhalten können daher relativ einfach identifiziert werden. Erfreulicherweise steigt die Zahl der Firmen, die sich messbare Ziele setzen, jedes Jahr.

Damokles-Schwert

Die Bemühungen zur Reduktion der Erderwärmung sind aber nur eine Seite im Kampf gegen den Klimawandel. Die Biodiversitätskrise ist ein weiteres Damokles-Schwert, und die Finanzindustrie beginnt einzusehen, wie wichtig es ist, die Natur bei ihren Anlageentscheidungen mitzuberücksichtigen. Nachdem sich die Branche dem Netto-Null-Ziel verschrieben hat, ist es nun an der Zeit, zu einem «naturpositiven» Ansatz überzugehen.

Dies gilt umso mehr als Biodiversität und Klima eng miteinander verknüpft sind. Wie stark wir uns auch bemühen, unsere CO2-Emissionen drastisch zu reduzieren, wir werden die Probleme, die mit der Erderwärmung einhergehen, nur lösen können, wenn wir uns auch um den Verlust der Biodiversität sorgen und umgekehrt. Beispielsweise führen gewisse Klimaereignisse wie Starkregen zu Erderosion – aber karge Böden können kein CO2 mehr binden. Die Sanierung von geschädigten Böden hilft also bei der Wiederherstellung der Biodiversität und schafft gleichzeitig Kohlenstoffsenken.

Das Konzept der Biodiversität ist komplexer als das Konzept Klima und bringt ebenso grosse Herausforderungen mit sich. Laut dem WWF sind seit dem Jahr 1970 aufgrund menschlicher Aktivität weltweit die Populationen von Wildtieren um durchschnittlich 60% zurückgegangen, laut der UNO sind 40% der globalen Böden geschädigt. Die Natur versorgt uns mit zahlreichen lebensnotwendigen, wertvollen und vor allem kostenlosen «Ökosystemdienstleistungen». Man denke dabei an die Bestäubung von Äckern, die Bindung von Kohlenstoff, die Versorgung mit sauberem Trinkwasser, sauberer Luft, Rohmaterialien und medizinische Komponenten. Gemäss dem World Economic Forum (WEF) ist mehr als die Hälfte des globalen BIP moderat oder sehr stark von der Natur abhängig.

«Ökosystemdienstleistungen»

Massive Verluste in der Biodiversität bedrohen die Fähigkeit der Natur, uns mit diesen «Ökosystemdienstleistungen» zu versorgen. Auch wenn wir in der Lage wären, diese zu reproduzieren – was in vielen Fällen nicht möglich ist – würde ein solches Unterfangen erhebliche Kosten für unsere Volkswirtschaften und Unternehmen nach sich ziehen. Der Verlust der Biodiversität hat riesige sozialen Kosten im Zusammenhang mit der Ernährung und Armut zur Folge. Deshalb müssen wir Unternehmen finanziell unterstützen, die bessere Wege aufzeigen, um die Biodiversität zu schützen und für ihre Wiederherstellung zu sorgen.  

Der Konflikt in der Ukraine hat beispielsweise eine massive Steigerung der Preise für Düngemittel und Herbizide verursacht und dadurch die Dringlichkeit zur Entwicklung besserer Produktionsmethoden verstärkt. Lösungen gibt es schon: Einige Unternehmen haben Prozesse und Methoden entwickelt, die landwirtschaftliche Betriebsstoffe viel sparsamer einsetzen und daher wirtschaftlicher produzieren, ohne der Biodiversität zu schaden. Leider könnte der aktuelle bewaffnete Konflikt die Abholzung in tropischen Regionen vorantreiben, könnte doch Palmöl als Ersatz von Sonnenblumenöl verwendet werden, deren wichtigste Produzenten die Ukraine und Russland sind.

Die politischen Entscheidungsträger und regulatorischen Behörden haben genau identifiziert, welche Probleme sich aus dem Verlust der Biodiversität ergeben. Innerhalb der EU sollte die grüne Taxonomie Investitionen in den Schutz der Biodiversität vorantreiben . Der Finanzindustrie fällt nun die Aufgabe zu, Anlageprodukte zu entwickeln, die diesen Zweck erfüllen können, sowie angemessene Messmethoden zu erarbeiten. Derzeit fehlt es an standardisierten und geprüften Daten, weil es keine einheitlichen und einvernehmlichen Methoden zur Messung der Fortschritte in Bezug auf die Biodiversität gibt. Die Zusammenarbeit sowohl innerhalb der Finanzbranche als auch mit Partnern aus dem Umweltschutzbereich ist die beste Methode, hier Veränderungen herbeizuführen.

Dem Finanzplatz Schweiz kommt eine wichtige Rolle bei der Anwendung eines «naturpositiven» Ansatzes in nachhaltigen Investitionen zu. Sie kann eine lange Tradition in Bezug auf die Analyse der Unternehmensverantwortung vorweisen, die auf einem thematischen und gezielt sektoriellen Ansatz beruht, der präziser und tiefgehender wirkt als umfassend nachhaltige Strategien. Obwohl letztere den Vorteil haben, bedeutende Gelder in nachhaltige Anlagen zu lenken, berücksichtigen sie oft nur grosskapitalisierte Unternehmen und lassen die kleineren beiseite. Diese könnten jedoch vielversprechend sein, weil sie meist spezifische Lösungen für spezifische Probleme erarbeiten. Auf lange Sicht beinhalten kleinere Firmen das grösste Potenzial zur Generierung von Investitionserträgen mit nachhaltigen Produkten.

War die Bekämpfung der Erderwärmung die erste Etappe auf dem Weg zu einer nachhaltigeren Finanzbranche, treten nun der Schutz und die Wiederherstellung der Biodiversität in den Vordergrund. Diese neue Ausrichtung erfordert eine ganzheitliche Betrachtung der kommenden Herausforderungen und mit ihnen rückt eine Realität in den Mittelpunkt, für welche die Finanzbranche Lösungen liefern kann, die ebenso viele neue und vielfältige Anlagechancen darstellen.